Wie raumnachrichten.de meldet, ist am 15. August Jörg Becker verstorben, Mitbegründer und Redakteur bzw. Betreiber der geographischen revue sowie von raumnachrichten.de. Er wurde 60 Jahre alt.
Ich habe Jörg zunächst auf Tagungen, dann als Redakteur der geographischen revue, schließlich Mitte der 2000er als Kollegen an der Uni Potsdam als umtriebigen, aktiven, interessierten, nicht immer ganz einfachen, sehr direkten, dabei immer ziemlich coolen Menschen kennengelernt, der sich für die Geographie interessiert hat. Ja, für die Geographie, das Fach als solches, als Ganzen, seine Geschichte, Entwicklung, Fallstricke, all das. Das einte ihn mit den Generationen, die vor ihm kamen, und an denen Auffassungen er sich abgearbeitet hat.
Obwohl Jörgs Blick auf die Geographie stets kritisch war, wollte er sich nie als „Kritischer Geograph“ oder als Anhänger der „Radical Geography“ verstanden wissen. Dabei wäre das durchaus nahegelegen. So hatte er bereits 1985 einen Text von David Harvey ins Deutsche übersetzt (Harvey 1985), sich in seiner Dissertation kritisch mit Untiefen der Postmoderne in der Geographie auseinandergesetzt (Becker 1996) und, gemeinsam mit seinen Gründungskollegen, die geographischen revue um die Jahrtausendwende zur interessantesten kritischen Theorie- und Diskussionszeitschrift der deutschsprachigen Humangeographie gemacht.
Dass seine Interessen und Aktivitäten auch schon zu Studienzeiten ähnlich gelagert gewesen sein müssen, ist der „Festschrift für Jörg Becker“ zu entnehmen, einem auf Schreibmaschine im DIN A4-Fotmat getippten und – nach Impressum – einundzwanzigmal gedruckten Sammelband, der anlässlich seines 28. Geburtstags vom „Freundeskreis Jörg Becker am Geographischen Institut der Georg-August-Universität zu Göttingen e.V.“ (1985) herausgegeben wurde, und der zu Beginn meines Studiums in Göttingen 1992 noch im Fachschaftsraum herumlag. Über 30 Jahre nach dem „Symposium“, auf dem sie basiert, ist die „Festschrift“ ein wunderbares Zeitdokument, das verdeutlich, dass es für kritische (und humorbegabte) Geister Mitte der 1980er Jahre an einem Geographischen Institut, das von einer auch politisch höchst konservativen Physischen Geographie und einer für die Zeit progressiven Anthropogeographie geprägt war, sowohl möglich war als auch nötig erschien, alte wir aktuelle Geographie durch den Kakao zu ziehen. Wie hier der „Weißwurstäquator“ anhand des länderkundlichen Schemas diskutiert oder die Currywurstversorgung Göttingens in Stile einer anwendungsorientierten, raumwissenschaftlichen Stadtgeographie (und zwar höchst kritisch mit Blick auf „Versorgungslücken“!), diskutiert werden, ohne dass der Witz daran erklärt werden müsste (das verstand mal offenbar!), verdeutlich eine Kenntnis vom sowie eine Auseinandersetzung und damit auch eine Identifikation mit dem Fach, wie sie wohl kaum mehr zu finden sein dürften.
Die deutsche Geographie verliert mit Jörg Becker eine seiner leider und zu Unrecht weniger bekannten Vertreter; und die „Kritische Geographie“ einen ihrer Wegbereiter hierzulande.
Bernd Belina
Literatur
- Becker, Jörg (1996): Geographie in der Postmoderne? Zur Kritik postmodernen Denkens in Stadtforschung und Geographie (= Potsdamer Geographische Forschungen 12). Potsdam.
- Freundeskreis Jörg Becker am Geographischen Institut der Georg-August-Universität zu Göttingen e.V.“ (1985): Festschrift für Jörg Becker. Bericht vom Symposium „Jüngere Erkenntnisse der älteren Geographie – Festveranstaltung aus Anlaß des 28. Geburtstags von Jörg Becker am 24. Juni 1985 in Göttingen. Göttingen.
- Harvey, David (1985): Die Raumwirtschaft der kapitalistischen Produktion. Ein marxistischer Erklärungsansatz (= GHM Diskussionspapiere 5). Oldenburg.