Offener Brief Wolf-Dietrich Sahr

Offener Brief von Prof. Dr. Wolf-Dietrich SAHR, Departamento de Geografia, Universidade Federal do Paraná (Brasilien) an den AK Kritische Geographie und Sympathisanten der Neuen Kulturgeographie (28/09/2017)

Liebe Freunde des AK Kritische Geographie (und Sympathisanten der Neuen Kulturgeographie)
mit grosser Freude habe ich gesehen – von weit (?) weg, aus Brasilien – dass Euer AK die Initiative ergriffen hat und auf dem Deutschen Kongress für Geographie 2017 eine alternative Veranstaltung in Tübingen anbietet. Ich halte dies für einen extrem wichtigen Beitrag, denn in der Wissenschaft geht es vor allem darum, autonome Bereiche zu sichern, Freiheiten des Denkens, der Debatte und Handelns zu garantieren, Ungewöhnliches und Kreatives anzubieten, so dass jede/r seinen Raum/Platz hat und/oder zumindest erobern kann – dies besonders in Zeiten, wenn sich die Geometrien des Wissens so verschieben, wie das gegenwärtig der Fall ist. Mit diesem Spirit habe ich schon seinerzeit die Neue Kulturgeographie Tagung unterstützt, die gegen die Tradition des beschränkten Zugangs am Geographentag als offene Tagung entstand, und diesen Sprit repräsentiert auch ihr.

Die Auseinandersetzungen im Vorfeld des diesjährigen DKG haben gezeigt, dass sich in der deutschen Geographie wieder ein konservativer Rollback beobachten lässt. Dieser spiegelt sich in der Neubelebung wenig demokratischer Wissenschaftsstrukturen wider (im Gegensatz zu dem, was im Schwäbischen Tagblatt als Position des Ortsaussschusses steht, haben einige kritische Stimmen nur ausserhalb des Kongresses in assymetrischer Pluralität Raum). Die schon vergessen geglaubte Übermacht des Ortsausschausses bei der Themengestaltung des Kongresses, die diesmal wichtige Themen von Teilnehmern z.B. der Neuen Kulturgeographie und der Kritischen Geographie peripherisierte oder zunächst ganz ausliess, geschweige denn ein Forum der Diskussion dazu eröffnete, ist dafür ein klares Signal. Die Ideologie von „Das Boot ist voll“ hat dabei in dem etwas abstrusen „Raumargument“ einer zu kleinen Uni für eine solche Veranstaltung einen kuriosen Widerhall gefunden, siehe die seinerzeitige Kritik der NKG und die Reaktion des Ortsausschusses.

Der Umstand, dass in Europa und darüber hinaus gegenwärtig sehr kontroverse Diskussionen zu Fragen des soziologischen Wandels, der Multikulturalität und neuer Naturverhältnisse, zu den Methoden der Dekonstruktion, Hermeneutik und kritischer Analyse, aber auch zur Energiewende, neuer Industriestruktur, Wandel des Kapitalismus und Arbeitsmarktsituation anstehen (um nur ein paar zu nennen), braucht mehr denn je eine lebhafte Debatte – auch auf einem Geographenkongress. Die „Moderierung“ wissenschaftlicher Positionen im Vorfeld ist dabei wenig hilfreich. Besonders, wenn sie so wie auf diesem Kongress durch „Spezialisten“ erfolgt, die, wie sich nun zeigt, in einigen Bereichen eher Nicht-Spezialisten sind. In diesem Zusammenhang beobachte ich mit grosser Sorge eine erneute Vernachlässigung der theoretischen Debatte in der Geographie, zumindest auf diesem Kongress. So lässt sich zwar ein breites politisches Programm in den Leitthemen beobachten, das —- wie der Zeitstrom —– in Teilen anti-intellektualistisch, neutralistisch und nur-systemisch argumentierend, und empirizistisch und politisch angepasst (institutionenhörig) daherkommt, besonders, wenn
einzelne fachliche Diskussionsrunden mit ungleichgewichtigen Einladungen an politisch-problematische Figuren aufgewertet werden. Nur wenig Raum gibt es aber für kritische Wahrnehmungsformen in der Geographie. Während linke Positionen zwar bei der Eröffnung besungen werden dürfen, wie vom Ernst-Bloch-Chor, haben konservative Positionen volles Rede- und Argumentationsrecht. Die Leitthemen und ihre Ausgestaltung zeigen das nur zu deutlich: Migration wird zunächst als demographisches, ökonomisches und verwaltungstechnisches Problem aufgemacht, und erst dann als soziales Problem gesehen, die Stadtlandschaft wird zur reinen Fragmentgeometrie mit – ja leider – schlimmen sozialen Folgen, die Umwelt ein Modellkonstrukt aus bewegten Elementen und Resourcen, der ökonomische und soziale Wandel (in dieser Reihenfolge!) unter evolutionären Aspekten zunächst ein Problem der Wissensökonomie, mit Industrie 4.o, Verflechtungen etc. und erst dann ein Problem von Exklusion/Inklusion… ach ja, der Menschen, und Natur und Umwelt, wieder einmal, sind planungsrelevante Grössen und tauchen sogar als (sic!) „Ökosystemdienstleistungen“ auf, während die Methodik überwiegend der instrumentellen Verbesserung und Intensivierung unserer Maschinisierung im Alltag dient…. und dann klappt noch in den letzten beiden Stichworten ein liebloser Rest von qualitativen Methoden und Diskursanalyse hinterher. Lediglich bei der Bildung geht es noch um „Geographisches Denken“, Gott sei Dank.

Auf ganzer Linie also ist die Programmatik dieses Kongresses ein Sieg der instrumentellen Vernunft. Es liegt nun an den Teilnehmern, dagegen zu arbeiten. Dabei fällt besonders auf, das politisch relevante und brisante Themen der internationalen Zusammenarbeit weitgehend ausgeglättet wurden. Dies gilt für die Konflikte des Neo-Nationalismus, der Ethnisierung und des Identitarismus, für die verstärkte Gefährdung von Demokratisierung (in Osteuropa, Lateinamerika, Afrika und Asien, also fast überall), die Behandlung kontroverser Aktionen neuer linker und rechter Bewegungen, den ökonomischen Neo-Imperialismus Chinas, den Zusammenbruch und das Verstellen der internationalen Architektur, die Zunahme von Überwachungstrukturen in unseren Gesellschaften (auch im internationalen Rahmen, wie die letzten Wahlen zeigen), die Verästelung kapitalistischer Relationen im Alltag, sowie das Aufkommen neuer Demokratie-Verständnisse und neuer kultureller Dimensionen und Kommunikationsverhältnisse, alles Thematiken, die nicht einmal randlich in den Leitthemen des Kongresses gestreift werden (Ausnahmen bestätigen hier nur die Regel). Ganz schweigen möchte ich von der profunden Ignoranz des Programms dieses Kongresses gegenüber philosophischen und psychologischen Veränderungen, die wir alltäglich in fast allen Gesellschaften der Welt erleben, und die hier in den Leitthemen überhaupt nicht vorkommen, obwohl sie von nicht wenig Kollegen bearbeitet werden.

Um einer möglichen und in den Leitthemen eventuell angedachten reduktionistischen und instrumentellen Hegemonie in der deutschsprachigen Geographie (wenn diese denn als Sprachgemeinschaft so existiert) entgegenzuarbeiten, möchte ich Euch deshalb meiner Solidarität versichern. Zwar sehe ich die aktuelle Situation noch nicht dramatisch – denn noch sind wir bei der Debatte – aber eine derartige Organisation UNSERES wissenschaftlichen Wissens, wie es dieser Kongress anbietet, erfordert Widerspruch. Ich spreche hier als Rest-Geograph von der Reste-Rampe der alten Bundesrepublik mit der „Gnade der Späten Geburt“ (Jahrgang 1957), noch dazu als international verlorener Sohn, der ähnliche Tendenzen einer immer konservativeren Geographie auch in Brasilien beobachtet. Dabei war es mir immer
Prinzip, auch wenn es manchmal schwierig scheint, eine progressive Erweiterung unseres geographischen Denkens voranzutreiben. Dieser FreiRAUM ist die beste argumentative Waffe gegen Nationalismus, Unterdrückung, Ungleichheit und Ausbeutung, und diesen Freiraum hat der Ortsausschuss der DKG 2017 mit seinen Leitthemen deutlich beschnitten, nach eigenen Aussagen und mit Begründung.

Deshalb unterstütze ich die Initiative zur Kritik an der Einladungspraxis auf den Kongress. Hier erfolgt in meinen Augen mit gezielten Ungleichgewichtigkeiten das Gegenteil von Pluralisierung. Das hat sich schon im Vorfeld abgezeichnet, betrachtet man den Konflikt mit der NKG Bayreuth. Als jemand, der sich im weitesten Sinne im linken Spektrum verortet (dabei aber stets um Autonomie jenseits der Kategorisierung kämpft), verteidige ich immer und für alle die Öffentlichkeit der Positionierung von Andersdenkenden (Verbote bringen hier gar nichts). Das gilt auch für Meinungen aus dem rechten oder gar rechtsradikalen Spektrum. Aber eine solche Regel gilt immer für ALLE Seiten, den nur so können die Instrumente einer wissenschaftlichen und politischen Debatte zur Reife kommen – wenn nur eine Seite Raum erhält, und wenn dies dazu noch durch ernannte Spezialisten erfolgt, wird es problematisch und erzwingt eine öffentliche Einklagung (Anmerkung: dies ist auf keinen Fall eine wissenschaftliche Wertung der Qualifikation der spezialisierten Kollegen!, sondern eine Kritik ihrer institutionellen Legitimation von Superiorität gegenüber den eigenen Kollegen).

Als ehemaliges Mitglied des demokratischen Vorgängerchores des Ernst-Bloch-Chores (ich war von 1981-83 in Tübingen Mitglied des demokratischen Chores Canto General), finde ich es sehr schön, das meine ehemaligen Mitstreiter dazu ein wichtiges Motto zur Eröffnung singen werden:

Wer, wenn nicht wir (oder ihr)!

Deshalb, viel Energie auf Euerm Weg. Ich unterstütze Euch und es tut mir leid, dass ich nicht in Tübingen sein kann.

Woody Sahr

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